Jahrzehntelang machten Lücken im Gesetz Aktiengeschäfte möglich, mit denen dreiste Betrüger den deutschen Staat um Millarden von Euro erleichtert haben. Ein Wirtschaftskrimi.
Der Antrag an das Bundeszentralamt für Steuern in Bonn vom Juni 2011 sieht auf den ersten Blick aus wie jeder andere. Die Summe jedoch macht die junge Sachbearbeiterin stutzig: Ein Pensionsfonds mit Sitz an der New Yorker Wall Street gibt an, in nur zwei Monaten deutsche Aktien im Umfang von 6,3 Milliarden Euro gekauft und kurz darauf wieder abgestossen zu haben. Der deutsche Staat, so verlangt das Schreiben, möge dem Antragsteller 53 882 080 Euro und 94 Cents an doppelt bezahlten Steuern zurückerstatten. Nun sind 54 Millionen Euro eine stattliche Summe, aber noch eigenartiger ist: Der Pensionsfonds hat einen einzigen Begünstigten namens Gregory Summers. Und der Zufall will es, dass da gleich noch ein zweiter Antrag vorliegt: Dieselbe Summe, dieselbe Adresse, derselbe Berechtigte. Ein-Mann-Rentenfonds, die mit Milliarden jonglieren, als wäre es Spielgeld? Anstelle einer Rückerstattung schickt die Sachbearbeiterin einen Brief mit kritischen Fragen nach New York, die nur ausweichend beantwortet werden: Noch ohne es zu wissen, ist Bonn einem gigantischen Steuerbetrug auf die Spur gekommen.
Recherchen werden zeigen: An der Wall Street in New York findet sich keine Spur des milliardenschweren Pensionsfonds, sondern nur die eines Vermieters von sogenannten virtuellen Büros, Geschäftsadressen mit Telefonservice. Auf dem Land ausfindig gemacht, braust Gregory Summers mit seiner Limousine den eigens aus Deutschland angereisten Reportern davon. In der Zwischenzeit tauchen in der deutschen Steuerzentrale weitere Anträge von Firmen auf, die allesamt nur einen oder wenige Berechtigte haben und die sich auf Hunderte Millionen Euro belaufen. Bonn stoppt die Auszahlungen. Der Verdacht erhärtet sich: Hinter diesen Anträgen stehen Geschäfte, die in der Branche «Cum-Cum» oder «Cum-Ex» genannt werden. Die Ermittlungen beginnen.
Stark vereinfacht, lief das Geschäft so. Aktien mit einem Anspruch auf Dividende («cum») werden einem Käufer vor der Aktionärsversammlung zugesagt, aber erst danach geliefert – ein sogenannter Leerverkauf, weil der Händler die Aktien zum Zeitpunkt des Verkaufs noch gar nicht besitzt, sondern sie sich erst nach der Versammlung beschafft und ohne Dividendenanspruch («ex») weiterleitet. Der Clou: Beide Parteien, der auf die Papiere wartende Käufer und der ursprüngliche Besitzer, lassen sich die Entrichtung der auf die Dividende geschuldete Quellensteuer bescheinigen, eine Steuer, die tatsächlich aber nur der ursprüngliche Eigentümer bezahlt hat, weil sie von der Aktiengesellschaft bei der Auszahlung bereits abgezogen worden ist. Geschäfte dieser Art dienen dazu, eine tatsächlich entrichtete Steuer doppelt oder mehrfach wieder zurückzufordern («Cum-Ex») oder aber einem Investor zu Steuerrückerstattungen zu verhelfen, auf die er gar keinen Anspruch hat («Cum-Cum»).
Viele Jahre hat die deutsche Politik gebraucht, um diese komplexen Betrügereien zu unterbinden: Seit 2012 ist «Cum-Ex», seit 2016 auch «Cum-Cum» gesetzlich verboten. Staatsanwaltschaften ermitteln, der Bundestag hat einen Untersuchungsausschuss eingesetzt. Den Schaden aber, der dem deutschen Staat entstand, schätzen Experten auf bis zu 31,8 Milliarden Euro. Die Ermittlungen werden noch Jahre andauern. Doch trifft diese riesige Summe am Ende tatsächlich zu, hätten sich damit Tausende Kilometer Autobahn, 40 Hamburger Elbphilharmonien oder sechs Berliner Grossstadtflughäfen bauen lassen.