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Vom Bankett in den Schmelzofen

‹Tafelsilber› sind Werte, die sich leicht verkaufen lassen und die dem Unternehmen, in dessen Besitz sie sich befinden, kurzfristig aus der Klemme helfen.

Das ‹Tafelsilber› ist eine beliebte Floskel der Betriebsökonomie. Wann immer ein Unternehmen wertvollen Besitz wie Beteiligungen, Immobilien oder Rohstoffe abstösst (oder von undurchsichtigen Investoren darum erleichtert wird), dann sagt man, es habe sein Tafelsilber verscherbelt.

Die Metapher ist gut gewählt: Wirtschaftliches Tafelsilber sind Werte, die nicht direkt zur Produktivität beitragen und die man – etwa zur Überbrückung einer Liquiditätskrise – veräus­sern kann. Beim Tafelsilber war das schon immer so: Verarmte Landadlige, die ihrer Güter verlustig gegangen waren und denen ausser ihrem Titel kaum etwas geblieben war, trennten sich am Ende auch von den letzten Erinnerungen an glorreiche Zeiten – vom edlen, kunstvoll geschmiedeten oder getriebenen Tafelgeschirr und -besteck ihrer Vorfahren.

Tafelsilber war keine Kleinigkeit. Seit jeher galt eine festlich gedeckte Tafel als Statussymbol der Mächtigen, und in der Renaissance nahm die Nachfrage nach von spezialisierten Goldschmieden gefertigtem Speisegerät stark zu. Ein wahrhaft reich gedeckter Tisch: Das aus Silber gefertigte Tafelgerät war ein ganzes Arsenal von Tellern, Schüsseln, Platten, Kasserollen, Saucie­ren, Schalen, Tassen, Bechern, Pokalen und Kandelabern – von den verschiedensten Gabeln, Messern, Löffeln, Kellen, Servier-, Tranchier- und Spezialbestecken ganz zu schweigen. Während heute eine bürgerliche Küche in der Regel zwölf Gedecke hergibt, bestand ein normales Tafelsilber aus mindestens 36 Gedecken. Das Tischgerät des Hauses Wittelsbach, eines der ältesten deutschen Adelshäuser, bestand gar aus über 3500 Teilen, die in den Silberkammern der Familienresidenzen sorgfältig verwahrt wurden.

Diese Silberkammern hatten mit Geschirrschränken oder Besteckschubladen kaum etwas gemein. Es waren vielmehr gewaltige Tresore – Gewölbe mit meterdicken Mauern, nahe der Küche und den Speisesälen gelegen, mit Türen aus gepanzerten Eichen­bohlen und einem Riegelwerk aus Stahl. Dabei hatte das Tischgerät nicht nur materiellen, sondern auch hohen sentimentalen Wert: Als die britische Königin Elisabeth II. am 18. Mai 1965 Deutschland besuchte, führte sie im Gepäck insgesamt sechs Tonnen Tafelsilber mit.

In guten wie in schlechten Zeiten: Weil das Tafelsilber – Silber mit einem Feingehalt von 800 Tausendsteln, teils vergoldet, in seltenen Fällen sogar Massivgold – allein aufgrund seiner ­Beschaffenheit einen beträchtlichen finanziellen Wert darstellte (das königliche Tafelsilber war für gewöhnlich Teil des Staatsschatzes), diente es auch immer wieder als Notgroschen. Der von Geldsorgen geplagte römisch-deutsche König und spätere Kaiser Maximilian I. musste 1496 sein Tafelsilber auf Jahre hin­aus verpfänden. Andere, wie etwa der Preussenkönig Friedrich Wilhelm I. im frühen 18. Jahrhundert, betrachteten ihr Tafelsilber ganz pragmatisch als Edelmetallvorrat für Notzeiten. Sie liessen es kurzerhand einschmelzen und zu Münzen prägen, sofern sie es nicht gleich ganz verkauften.

Fürstliches Tafelsilber ist heute vor allem in Museen anzutreffen. Doch im übertragenen Sinn ist es ein Notgroschen geblieben – nicht für verarmte Adelshäuser, sondern für klamme Unternehmen.