Die ersten Verkaufsstellen des Schweizer Grossverteilers Migros waren keine Ladengeschäfte, sondern vielmehr klapprige Lastwagen. Dahinter stand ein revolutionäres Geschäftsmodell.
Das Flugblatt von 1925 trägt die Aufschrift «Migros – der fahrende Laden: An die intelligente Frau, die rechnen kann». Als der Zürcher Unternehmer Gottlieb Duttweiler an seinem 37. Geburtstag, dem 15. August 1925, mit einem Startkapital von 100 000 Franken die Migros AG gründet, lautet seine geradezu prophetische Geschäftsidee: Lebensmittel billiger machen, grosse Mengen günstig einkaufen, den Zwischenhandel umgehen, die Lagerkosten niedrig halten und nur minimale Margen einbehalten. Und wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss der Berg eben zum Propheten. Also beschafft «Dutti», wie der charismatische Migros-Gründer bald genannt wird, fünf Lastwagen des Modells «Ford T», belädt sie noch am Gründungstag mit sechs Artikeln des täglichen Bedarfs (Kaffee, Reis, Zucker, Teigwaren, Kokosfett und Seife) und lässt diese an 178 Haltestellen in der Stadt Zürich verkaufen –, ein Kilo Nudeln, Spaghetti oder Hörnli für 95 Rappen, um bis zu 40 Prozent günstiger als die Konkurrenz.
«Ich hatte kein Geld für Läden. Daher musste ich die fünf kleinen Ford-Wagen haben», erklärt Duttweiler später: «Das war billig; so konnte ich mit 8 Prozent Spesen auskommen statt der 25 Prozent der Konkurrenz». Im Zürich der 20er-Jahre sind die Klapperkisten eine wahre Sensation, auch wenn sich die junge Migros anfangs kaum über Wasser halten kann. Jeder Gewinnfranken wird sofort wieder in Infrastruktur investiert, und im Migros-Wagen einzukaufen, hat etwas Anrüchiges. Denn Duttweilers Preiskampf polarisiert: Die angestammten Händler fühlen sich bedroht und versuchen zusammen mit Parteien und Gewerkschaften, die Migros in Verruf zu bringen. Nicht selten versammeln sich erzürnte Migros-Gegner auf dem Dorfplatz und bilden einen Halbkreis um den Verkaufswagen, um die Kundschaft abzuhalten. Andernorts werden die Haltestellen kurzerhand mit Heu- oder Jauchewagen blockiert; nicht selten rückt die Polizei an, um eine Eskalation zu verhindern.
Und doch: Schon im zweiten Geschäftsjahr, im Dezember 1926, hat sich die Zahl der rollenden Filialen mit mittlerweile 48 fast verzehnfacht. Wagenflotte und Routennetz wachsen weiter; die kleinen Eintonnen-Lastwagen werden durch Zweieinhalbtönner ersetzt. Um die Kosten tief zu halten, ist der Fahrer zugleich der Verkäufer: «Ich hatte einen Traumjob, einen richtigen Vagabundenjob», erinnert sich 2007 der frühere Migros-Chauffeur Oskar Albert: «Aber man musste sich exakt an die Zeiten halten: Wir hatten einen starren Fahrplan, und gerade an Samstagen war es oft so, dass wir selbst nicht einmal zum Essen kamen.» Die rollenden Läden erweisen sich als so erfolgreich, dass die Migros 1932 gar den Sprung ins Ausland wagt: In Berlin baut Duttweiler eine Flotte von 85 Lastwagen auf, die im Grossraum Berlin 2000 Haltepunkte anfahren. Aber rasch gerät die Migros als angebliche «Judenfirma» ins Visier der SA, und schon 1933 muss die Deutschland-Tochter wieder schliessen.
Generationenlang gehören die rollenden Migros-Filialen zum Schweizer Strassenbild. «Wir haben auf die Intelligenz der Hausfrau spekuliert», erklärt Gründer Duttweiler später: «Das erste Flugblatt von 1925 trug das Symbol der Brücke, des direkten Weges von der Hausfrau zum Bauern. Diesem Symbol haben wir nachgelebt. Es waren die Schweizer Frauen, die dieses Unternehmen effektiv gerettet haben». Am 30. November 2007 machten im Wallis die letzten zwei Migros-Wagen ihre Runde. Eine Fahrt von wirtschaftsgeschichtlicher Bedeutung: Mit einem Jahresumsatz von über 28 Mrd. Franken belegt die Migros-Gruppe heute den Ranglistenplatz 415 der grössten Firmen der Welt.