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Die Währung aus dem Meer

In der Jungsteinzeit und im alten China bezahlten die Menschen mit Muschelgeld, Geld aus den Gehäusen kleiner Meeresschnecken. Dieses Primitivgeld ist längst nicht nur ein Fall für die Archäologie: Auf der Südseeinsel Neubritannien wird bis heute mit Muschelgeld bezahlt.

Von Afghani bis Złoty: Mehr als 160 verschiedene Währungen gibt es auf der Welt. Eine davon gibt es seit buchstäblich Tausenden von Jahren: Muschelgeld. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um Kaurigeld, dessen «Münzen» nicht von einer Muschelart stammen, sondern von einer Meeresschnecke, die landläufig «Kaurimuschel» genannt wird. Das Gehäuse der Kaurischnecke ist glatt und glänzt wie Porzellan, und als Marco Polo Ende des 13. Jahrhunderts erstes Porzellangeschirr von China nach Europa brachte, verglich man diesen unbekannten Stoff mit der Kauri – das Wort «Porzellan» kommt vom italienischen Wort porcellana, dem Wort für Kaurischnecke.

Die Kauri ist den Menschen seit jeher lieb und teuer. Vor Jahrtausenden schon wurde ihr glattes Gehäuse als Schmuck auf Kleider genäht, und in Afrika, Asien und China war Kaurigeld lange eine anerkannte Leitwährung. Kaurigeld ist sogenanntes «Primitivgeld», und wie jede Form von Geld hatte es drei Zwecke: Man konnte damit bezahlen, man konnte es beiseitelegen und sparen, und auf seiner Basis liessen sich Güter einheitlich bewerten. Dazu sind Kaurimuscheln selten, handlich, haben eine einheitliche Form – und sind kaum zu fälschen. Kauri- war zu allen Zeiten die am weitesten verbreitete Form von Muschelgeld, und weil es über Stammesgrenzen hinaus als Zahlungsmittel anerkannt war, spielte Kaurigeld jahrtausendelang eine wichtige Rolle im überregionalen Handel. Die kleinen, eiförmigen Gehäuse zirkulierten als internationale «Währung» rund um den halben Globus.

Muschelgeld ist bis heute in Gebrauch. Auf Papua-Neuguinea gibt es indigene Völker, die Güter des täglichen Bedarfs noch immer mit Muscheln bezahlen. Auf dem Bismarck-Archipel, überwiegend rund um die Inselhauptstadt Kokopo, lebt das Volk der Tolai. Die Tolai haben ihre traditionelle Lebensform bewahrt und bewirtschaften als Selbstversorger ihre eigenen Gärten, oft als Gemeinschaften von mehreren Haushalten. Die Dörfer bestehen aus teils weit verstreuten Weilern. Auf dem fruchtbaren vulkanischen Boden gedeihen Taro- und Yamswurzeln, Süsskartoffeln, Bananenstauden und Kokospalmen. Gehandelt wird mit Muschelgeld, genannt Tabu, Tambu oder Diwarra, das zu Geldschnüren aufgereiht wird, die fathoms heissen. Das englische Wort fathom stammt vom gleichnamigen nautischen Längenmass ab und entspricht 1,8 Metern, der Spannweite eines Mannes mit ausgebreiteten Armen. Auf einen Faden dieser Länge passen 300 bis 400 sorgsam zu Ringen zurechtgeschliffene Schalen einer kleinen Meeresschnecke mit dem lateinischen Namen «nassarius arcularia».

Das Muschelgeld der Tolai ist nicht bloss Primitivgeld für den täglichen Bedarf, sondern auch konvertibel: Lokale Wechselstuben und veritable Muschelbanken tauschen Kauri- in Bargeld und umgekehrt, denn Schulgebühren oder Arzt- und Spitalkosten müssen in Kina beglichen werden, der offiziellen Währung Papua-Neuguineas. Der aktuelle Wechselkurs beträgt 4 Kina für einen fathom, was rund 1,50 Euro entspricht. Das Muschelgeld Tabu seinerseits besitzt grosse kulturelle und spirituelle Bedeutung, etwa bei Taufen, Hochzeiten oder Trauerfeiern. Und es ist nach wie vor die gängige Währung für Einkäufe auf dem Markt – für Früchte und Gemüse etwa und selbst für das Aufladen von SIM-Karten der auch in Neubritannien gebräuchlichen Handys.

Muschelgeld sind der Inbegriff des Exotischen, doch die kostbaren Muscheln haben auch europäische Verwandte. Die rund einen Zentimeter grosse Nördliche Kauri («trivia arctica») kommt im Mittelmeer, auf den Orkney-Inseln und in Norwegen vor. In Schottland heissen die bräunlich-weissen und quer gerippten Müschelchen groatie buckies, auf Deutsch «Schneckengeld». An Wochenenden suchen Einheimische an den Stränden von Orkney zwischen Steinen und Seetang stundenlang geduldig nach den hübschen Kauri. Die sind zwar nicht mehr bares Geld, aber sie gelten als Glücksbringer – und nach einer harten Arbeitswoche, so sagen die Schotten, ist die erholsame Suche am Strand ganz einfach gut für die Seele.