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Die Sandhaufen des Per Bak

Ein Börsencrash ist unberechenbar, und ist er einmal vorüber, suchen Ökonomen nach Ursachen und entwickeln Prognosemodelle – oft mit zweifelhaftem Erfolg. Wichtige Erkenntnisse stammen oft von anderswo: Zum Beispiel vom Sandstrand.

Der Däne Per Bak (1947–2002) war theoretischer Physiker und hatte lange an der Physik komplexer Systeme und ganz besonders an sogenannten Phasenübergängen herumgeforscht – Übergängen, wie ihn etwa Wasser zeigt, das zu Eis gefriert oder verdampft. Dabei erkannte er, dass hinter diesen Phasenübergängen eine viel grössere Frage stand: Wie ist es möglich, dass in der Natur aus Chaos ganz von selbst Organisation und Struktur entstehen kann und umgekehrt?

«Denken Sie an folgende Szene», schreibt Bak in seinem Buch «How Nature Works: The Science of Self-organized Criticality» aus dem Jahr 1996: «Ein Kind sitzt am Strand und lässt Sand aus seiner Hand rieseln, so dass ein Häufchen entsteht. Am Anfang ist dieses flach, und die einzelnen Sandkörner bleiben mehr oder weniger liegen, wo sie gelandet sind. Ihre Bewegung lässt sich aufgrund ihrer physikalischen Eigenschaften beschreiben. Mit der Zeit aber werden die Hänge steiler, und es bilden sich erst kleine, dann allmählich grössere Lawinen. Und irgendwann wird eine Lawine so gewaltig sein, dass sie den Haufen als Ganzes erfasst. Dann ist das System komplett aus dem Gleichgewicht.»

Bak hatte eine Antwort auf die Frage nach der durchschnittlichen Grösse einer Lawine gesucht. Die ernüchternde Antwort, nach Simulation und Untersuchung zahlloser am Computer simulierter, virtueller Sandhaufen: Es gibt üblicherweise keine durchschnittliche Lawinengrösse. Die Eigenschaften von Systemen, die einen kritischen Punkt erreicht haben – ganz von selbst, ohne Zutun von aussen –, können sich urplötzlich dramatisch ändern. Wie gross eine nächste Lawine sein wird, lässt sich dann nicht mehr vorhersagen. Und schliesslich die wohl schwerwiegendste Erkenntnis: Das System des in sich zusammenfallenden Sandhaufens lässt sich nicht mehr aus dem Verhalten aller einzelnen Sandkörner ableiten.

Auch Börsen und Finanzmärkte sind Systeme mit den Eigenschaften Bak’scher Sandhaufen. Es gibt nicht nur keine Lawinendurchschnittsgrösse, an der man sich – innerhalb gewisser Bandbreiten – orientieren könnte, sondern auch keine typischen Ausmasse von Kurseinbrüchen. Börsenprofis wissen, dass Extreme, die von der Streuung um einen angenommen Mittelwert weit abweichen, nicht nur nicht selten sind, sondern tatsächlich sogar ziemlich oft auftreten.

Wendet man Baks Forschungen auf die Ökonomie an, dann lassen seine Forschungen drei Schlüsse zu. Erstens: Wer es mit Sandhaufen zu tun hat, sollte nicht auf Durchschnittswerte bauen. Wer sich in Rotterdamm ans Wasser stellt, mag festhalten, dass jedes der beiden Gewässer, der Rhein und das Meer, durchschnittlich mehr als 35 Prozent der Erdoberfläche bedecken. Die Erkenntnis ist zwar unzweifelhaft richtig, taugt aber denkbar wenig. Zweitens: Börsen und Märkte zählen zu Systemen, die von selbst auf instabile Zustände hinsteuern. Und diese zeichnen sich dadurch aus, dass einzelne Ereignisse – das Platzen einer Immobilienblase hier, die Schuldenkrise eines einzelnen Staates da – auf einmal miteinander in unheilvolle Wechselwirkung treten. Und drittens: Befindet sich ein solches System erst einmal in einem kritischen Zustand, stehen Ursachen und Wirkungen in keinerlei Verhältnis mehr. Ein Krieg, eine Naturkatastrophe, eine Epidemie können dann das eine Sandkorn sein, das den ganzen Haufen zum Einsturz bringt.