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Das Märchenschloss auf der Rütliwiese

Ludwig II, König von Bayern, war ein glühender Verehrer der Schweiz. Ein Schloss sollte seiner Begeisterung für den Nationalhelden Wilhelm Tell Ausdruck geben – auf der Rütliwiese, dem Schauplatz des mythischen Schwurs.

Ein Held, ein Tyrann, ein Land, das nach Freiheit lechzt: Die Oper «Wilhelm Tell» von Giacomo Rossini muss für den jungen Bayernkönig Ludwig II aus dem Hause Wittelsbach eine Offenbarung gewesen sein. Am 11. März 1864 hatte er den Thron bestiegen, nachdem sein Vater Maximilian nach kurzer, heftiger Krankheit gestorben war. Und jetzt, mit erst 20 Jahren und keine zwei Jahre als Monarch, hatte er die zermürbenden Winkelzüge der Politik satt und wandte sich der Kultur und der Geschichte zu.

Rossinis Oper und Schillers Drama – und ganz besonders die Figur des Wilhelm Tell – schlugen den schwärmerisch veranlagten jungen Wittelsbacher in Bann. Mit 15 hatte er sich von seinem prinzlichen Taschengeld eine Wilhelm-Tell-Statuette gekauft, und nun zog es ihn in die Schweiz und an die Schauplätze der Handlung: Im Oktober 1865 reiste Ludwig zur Stauffacherkapelle in Steinen, zur hohlen Gasse in Küssnacht, zur Tellsplatte bei Sisikon am Vierwaldstättersee – und natürlich zum Rütli, dem Ort des mythischen Schwurs zur Gründung der Alten Eidgenossenschaft. Auf dem Rütliwiese kniete er nieder, um Wasser zu trinken:

Ich trank aus den 3 Quellen des Rütli und sah von der Höhe des Seelisbergs herab auf den tief unten liegenden Spiegel des wonnigen Sees und auf den Platz, an welchem ein heldenmüthiges, freiheitsliebendes Volk den Untergang der Tyrannei geschworen,

schrieb er zwei Monate später an seinen Brieffreund, den von ihm vergötterten Komponisten Richard Wagner.

Dass Ludwig in seiner Heimat alles andere als ein Freund demokratischer Mitbestimmung war, tat seiner Schwärmerei für den Schweizer Gründungsmythos keinen Abbruch. Auf dem Rütli, so stellte er sich vor, würde er ein Schloss erbauen, ein prachtvolles Märchenschloss, das (wie später Schloss Neuschwanstein in Hohenschwangau im Allgäu) seinen Vorstellungen von einer mittelalterlichen Ritterburg entsprechen sollte. Indes: Das Rütli, von der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft verwaltet, gehörte bereits seit 1860 als «unveräusserliches Nationaleigentum» der Schweizerischen Eidgenossenschaft. An einen Rütli-Kauf war selbst für einen Bayernkönig nicht zu denken.

Dass der junge, hochgewachsene Tourist ein König und ergo nicht eben mittellos war, verbreitete sich in der Innerschweiz wie ein Lauffeuer. Auch seine Begeisterung für die Tellensage blieb im Wirtshaus «Tell» in Bürglen, wo sich Ludwig einquartiert hatte, nicht verborgen. Der bauernschlaue Wirt Franz Epp fasste sich ein Herz und bot dem jugendlichen König den «Tell» als angebliches «Stammhaus Wilhelm Tells» zum Kauf an, für die geradezu unverschämte Summe von 100 000 Franken. Die Verhandlungen kamen voran, ein Kaufvertrag wurde aufgesetzt. Als aber urplötzlich trübes Oktoberwetter einsetzte, reiste Ludwig überstürzt ab und verlor das Interesse.

Um den blaublütigen Käufer doch noch bei der Stange zu halten, griffen Wirt Franz Epp und seine Freunde zu einer List: Mittels einer Volksinitiative wollten sie für den Bayernkönig das Ehrenbürgerrecht des Kantons Uri erreichen. Aber auch diesmal stand der Bund im Weg: Ausländer, so beschied Bundesrat Jakob Dubs den Initianten, könnten nur dann ein Ehrenbürgerrecht erlangen, wenn sie davor auf ihr eigenes Bürgerrecht verzichteten – undenkbar für einen Monarchen. Die Initiative wurde zurückgezogen, und der geplante Verkauf eines Stücks Urschweiz an einen deutschen König verlief endgültig im Sand.