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‹Curta›: Zahlen aus der Dose

«Ein dauerhafter, schnell rechnender Mitarbeiter für alle vier Rechnungsarten in der Rocktasche» versprach die Verkaufsbroschüre: Der kleinste mechanische Taschenrechner der Welt war made in Liechtenstein.

Prolog: Mechanische Rechenmaschinen hatten es dem gelernten Feinmechaniker Christophe Clément ganz besonders angetan. 1987, in seinem ersten Studienjahr an der damaligen Ingenieurschule Freiburg, erkundigte er sich nach den äusserst kompakten Rechenmaschinen, von denen er wusste, dass sie bis in die Siebzigerjahre gegen ein Entgelt von 20 Franken pro Jahr an Studierende ausgeliehen worden waren – doch vergeblich: Nach dem Siegeszug der elektronischen Taschenrechner waren die Rechner namens «Curta», diese kleinsten mechanischen Rechenmaschinen der Geschichte, in Vergessenheit geraten und blieben verschollen.

Der Feinmechaniker Curt Herzstark (1902–1988) ist der Sohn des österreichisch-jüdischen Unternehmers Samuel Jacob Herzstark, der 1905 die erste Rechenmaschinenfabrik Österreichs gegründet hat, das Rechenmaschinenwerk «Austria». Von Kindsbeinen an bastelt der kleine Curt in der väterlichen Werkstatt und begleitet seinen Vater auf internationale Bürofachmessen. Im «Austria»-Werk absolviert der junge Herzstark eine Lehre als Werkzeug- und Feinmechaniker, wird Ingenieur und träumt davon, eine Rechenmaschine zu entwickeln, die so kompakt ist, dass man sie in die Tasche stecken kann. Was ihm vorschwebt, ist keine Miniaturisierung bereits existierender Apparate, sondern ein von Grund auf neu konstruierter Kleinstrechner. «Ein Rechenschieber hatte keinen Sinn», erklärt Herzstark 1987 in einem Interview:

Erstens kann man damit nicht addieren und subtrahieren, und ausserdem können Sie mit dem Strich nur ungefähre Werte kriegen. (…). Ich wollte aber wissen, wie viel genau.

1939 nimmt sein Traum Gestalt an. Seine Konstruktion hat die Form einer kleinen Konservendose und ist ein 230 Gramm leichter, handlicher Zylinder von nur 5,3 Zentimetern Durchmesser und 8,5 Zentimetern Höhe. Er lässt sich mit einer Reihe von Schiebereglern an der Seite und, zum Auslösen des Rechenvorgangs, mit einer seidenweich laufenden Kurbel an der Oberseite bedienen. Die Konstruktion beherrscht alle vier Grundoperationen in bis zu 11-, später gar 15-stelligen Zahlen, und selbst Dreisatzrechnen und Wurzelziehen sind möglich. Noch vor Beginn des Zweiten Weltkriegs meldet Herzstark erste Patente an.

Doch dann macht die Weltpolitik dem Erfinder einen Strich durch die Rechnung. Im Juli 1943 wird Curt Herzstark als «Halbjude» verhaftet und nach Gefängnisaufenthalten in Wien, Linz und Budweis ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Anfänglich Zwangsarbeiter in der Lagergärtnerei, wird er ernsthaft krank.

Das war eine ganz böse Geschichte,

sagt Herzstark später,

wie ich da nach Buchenwald eingeliefert worden bin. Ich war seelisch am Nullpunkt.

Doch bald fällt den Aufsehern seine feinmechanische Begabung auf, und er wird in die Wilhelm-Gustloff-Werke versetzt, einen feinmechanischen Betrieb der SS. Hier wird Herzstark Leiter der Abteilung für Präzisionsteile, wie sie etwa für die deutsche V2-Rakete benötigt werden.

In seiner Freizeit, an Sonntagvormittagen und spätabends, stellt er Konstruktionszeichnungen für seine Rechenmaschine mit dem vorläufigen Namen «Herzstark Liliput» her. Der Lagerkommandant hofft, ein Exemplar dereinst Adolf Hitler persönlich überreichen zu können. Als Abteilungsleiter rettet Herzstark einer ganzen Reihe von Mithäftlingen das Leben, indem er sie in seiner Abteilung einsetzt: Seine Sonderstellung ermöglicht es ihm, Lebensmittelpakete in Empfang zu nehmen und andere KZ-Insassen ins schützende Werk zu holen. Für die Rettung einer luxemburgischen Arbeiterin wird ihm nach dem Krieg der Orden der Luxemburger Bruderschaft verliehen.

Nach seiner Befreiung durch Truppen der 3. US-Armee im April 1945 und der Übergabe Thüringens an die Sowjetischen Besatzungstruppen flieht Herzstark mit den Plänen seines Minirechners nach Wien und sucht dort Geschäftspartner, mit deren Hilfe er sein neuartiges Gerät in Serie zu produzieren hofft – erfolglos. Auch seine Korrespondenz mit amerikanischen und Schweizer Präzisionsmaschinenherstellern führt zu nichts. Im Fürstentum Liechtenstein schliesslich findet er in Fürst Franz Josef II. einen Mentor:

Es wurde mir eröffnet, dass der Fürst von Liechtenstein Industrie aufbauen will und Fachleute sucht, und dass man durch gründliche Recherchen gefunden hätte, ich sei der richtige Mann,

gibt Herzstark später zu Protokoll. Bleibt allein die Sache mit dem Namen. «Liliput» halten die Verkäufer für zu exotisch, und die Sitzung ufert aus. Bis sich schliesslich die Sekretärin zu Wort meldet:

Meine Herren, ich verstehe diesen Streit nicht. Der Erfinder heisst Curt, und das ist doch seine Tochter. Wollen wir sie nicht einfach ‹Curta› nennen?

Damit ist der Markenname geboren.

1946 wird im liechtensteinischen Mauren die Contina AG gegründet, die von 1948 bis 1970 insgesamt rund 140 000 Stück des nach seinem Konstrukteur benannten Rechners herstellt. Trotz des stolzen Preises von 425 Deutschen Mark im Jahr 1965 (heute gegen 1000 Schweizer Franken) ist die «Curta» ein grosser Erfolg. In den 1970er-Jahren aber nimmt der Siegeszug des elektronischen Taschenrechners seinen Lauf, und die mechanische «Curta» gerät allmählich in Vergessenheit.

Epilog: An der Ingenieurschule Freiburg konnte sich 1987 niemand mehr an den Verbleib der mechanischen Kleinstrechner erinnern. Der Student Christophe Clément aber blieb hartnäckig, und schliesslich öffnete eine Sekretärin eine längst vergessene Schublade, die prompt ein Dutzend der kaffeemühlenartigen Apparate enthielt. Der Direktor, der selbst lange Zeit nach den verschollenen «Curtas» gesucht hatte, war ausser sich. Aus Dankbarkeit bot er dem Finder eine davon an – gegen einen symbolischen Betrag von 50 Franken. Heute ist Clément stolzer Besitzer einer ganzen Sammlung mechanischer Rechenmaschinen. Ihr Glanzstück: eine nach wie vor voll funktionsfähige «Curta», eines jener feinmechanischen Wunderwerke des Erfinders Curt Herzstark.

Dieser Artikel erschien am 1. November im Blog des Schweizerischen Nationalmuseums, Zürich.