Im Marienheiligtum von Oberbüren (BE) bot die katholische Kirche des Mittelalters ganz besondere Dienste an: Tot geborene oder bei der Geburt gestorbene Kinder wurden kurz zum Leben erweckt, um getauft und danach bestattet werden zu können.
Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht geboren wird aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen,
antwortet Jesus dem zweifelnden Pharisäer Nikodemus. Dieser Dialog im Johannesevangelium wog schwer, denn in der Lesart des Kirchenvaters Augustinus hiess das im Klartext: Kinder, die ohne Taufe sterben, fallen der ewigen Verdammnis anheim.
Als ob eine Totgeburt oder ein früher Kindstod nicht des Leids genug wäre: Die Vorstellung, ihr unschuldiges, ungetauftes Kind komme in die Hölle, muss für die trauernden Mütter und Familien unerträglich gewesen sein. Daraus schlugen Wallfahrtskirchen und Auferweckungsheiligtümer, sogenannte «sanctuaires à répit», Kapital: Sie versprachen, die toten Kinder kurzzeitig zum Leben zu erwecken, so dass sie getauft und bestattet werden konnten, um dann in geweihtem Boden zu ruhen.
Eines dieser Heiligtümer stand auf der «Chilchmatt» in Oberbüren, einer sanften Erhebung am südöstlichen Ortsrand von Büren an der Aare. Eine einfache, aus dem Jahr 1302 stammende Kapelle war ums Jahr 1470 durch eine aufwändige, mit einer Mauer umfriedete Anlage ersetzt worden, die neben der erhöhten, 50 Meter langen und mit einem Eingangsturm versehenen Wallfahrtskirche auch ein Empfangsgebäude, ein grosses Kaplanenhaus mit neun oder zehn Kammern, eine Brunnenanlage und ein Beinhaus umfasste. Die Kirche zählte zur Diözese Konstanz und war der heiligen Maria geweiht, da man von ihr als Mutter ganz besondere Sorge um das Seelenheil der toten Kinder erwartete.
Die angebliche Auferweckung von den Toten, die sich auf dem Hochaltar in Oberbüren vollzog, war tatsächlich nichts als pure Physik.
Gewisse von den weltlichen Behörden dazu bestimmte Frauen erwärmen die todten Kinder zwischen glühenden Kohlen und ringsum hingestellten Kerzen und Lichtern. Dem warm gewordenen todten Kinde oder der Frühgeburt wird eine ganz leichte Feder über die Lippen gelegt und wenn die Feder zufällig durch die Luft oder die Wärme der Kohlen von den Lipen wegbewegt wird, so erklären die Weiber, die Kinder und Frühgeburten atmeten und lebten und sofort lassen sie dieselben taufen unter Glockengeläute und Lobgesängen. Die Körper der angeblich lebendig gewordenen und sofort wieder verstorbenen Kinder lassen sie dann kirchlich beerdigen zum Hohne des orthodoxen christlichen Glaubens und der kirchlichen Sakramente,
schrieb der erzürnte Konstanzer Bischof Otto von Sonnenberg 1486 in einem Brief an die Kurie in Rom.
Der Aberglaube war dem Bischof seit langem ein Dorn im Auge, denn die vorgebliche Wiedererweckungskirche hatte beträchtlichen Einfluss. Zu Hunderten, wenn nicht zu Tausenden, wurden tote Kinder von weither nach Oberbüren geschafft: Der Fund spätmittelalterlicher Münzen auf dem Gelände belegt, dass die Pilger den Weg aus Bern, Zürich, Basel und selbst aus dem Tirol, Frankreich und den Niederlanden auf sich nahmen, um ihren toten Kindern den himmlischen Frieden zu sichern. Um der dreisten Täuschung einen Riegel zu schieben, hatte Bischof Otto bereits 1485 eine offizielle Untersuchung eingeleitet. Die Kirche von Oberbüren war aber nicht nur ein spirituelles Zentrum, sondern auch ein Wirtschaftsfaktor, denn kostenlos war bloss die Auferweckung, nicht aber die Taufe oder die Bestattung. Und so setzte sich Bern, dessen Haushalt durch den teuren Münsterbau stark belastet war, gegen jede Kritik zur Wehr und begann, den Konstanzer Bischof gegen seinen Amtskollegen, den Bischof von Lausanne, auszuspielen – wohl wissend, dass die Diözese Lausanne mehrere solcher Wiedererweckungsheiligtümer duldete, in Lausanne selbst, in Châtillens (VD), Neuenburg und Montagny (FR). Ottos Untersuchung wurde hintertrieben, das Marienheiligtum nach Kräften gefördert. 1495 erwarb Bern vom Benediktinerkloster Erlach das Patronatsrecht über die Wallfahrtskirche; 1507 setzte der Rat gar seinen Säckelmeister als Vogt ein.
Es war schliesslich die Reformation, die das Ende des florierenden Geschäfts einläutete. Nach einer Disputation in Bern im Jahr 1528, zu welcher der Zürcher Huldrych Zwingli und andere Reformatoren eingeladen waren, beschloss Bern den formellen Übertritt zur neuen Lehre. Von einem Tag auf den anderen wurden die Wiedererweckungen in Oberbüren verboten, die Wallfahrtskirche geschlossen und das Gnadenbild der Maria öffentlich verbrannt. Büren leistete anfänglich Widerstand, doch Bern ordnete unter Androhung einer harten Strafe die Zerschlagung der Altäre an. 1530 erging der Befehl, die Kirche abzureissen und die Steine für die Stadtmauern zu verwenden; zwei Jahre später wurde auch der Kirchturm bis auf die Grundmauern abgetragen. Die letzten allen Verboten zum Trotz herbeiströmenden Pilger wurden von Soldaten mit Waffengewalt vertrieben.
Die bewegte Geschichte der «Chilchmatt» geriet in Vergessenheit, bis eine geplante Überbauung 1992 und archäologische Grabungen 1997 in Oberbüren Mauerreste der ausgedehnten Anlage und rund 250 Föten- und Kinderskelette zutage brachten. Heute erinnern nur noch eine ebene Fläche mit den Umrissen der einstigen Wallfahrtskirche und eine Skulptur des 2017 verstorbenen Solothurner Künstlers Gunter Frentzel an das mittelalterliche Heiligtum. Die hoch aufragende Eisenplastik mit dem Namen «Die Feder» zeigt einen zum Horizont weisenden Fächer aus 17 Chromstahlstäben und soll, wie der Künstler 2003 schrieb, das Sonnenlicht reflektieren und Bewegung assoziieren, als «Symbol für Leichtigkeit und Fliegen».
Dieser Artikel erschien am 3. November 2021 im Blog des Schweizerischen Nationalmuseums, Zürich.