Nach dem letzten Bier der Schreck: Der Geldbeutel liegt zuhause. Die Lösung: Anschreiben lassen. In rechtlicher Hinsicht ist das eine Kreditaufnahme, und sie ist gute alte Tradition.
1830, ein Jahr vor seinem Tod, stand Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein vor einem unerwarteten Problem. Einer seiner Förster hatte am Schützenfest von Kappenberg (Nordrhein-Westfalen) in seinem Namen den besten Schuss getan, und so wurde der Freiherr in Abwesenheit zum Schützenkönig ernannt. Die Sitte verlangte es, dass dieser zur Feier des Tages der Schützengesellschaft ein 115-Liter-Fass Bier und drei Taler spendierte, und so musste Freiherr vom Stein, wohl bestallter preussischer Beamter, seine Schuld notgedrungen beim Wirt ins Anschreibebuch eintragen lassen. Auf diese Weise ist der Kredit des adligen Staatsmanns bis auf den heutigen Tag aktenkundig geblieben.
Anschreiben lassen ist rechtlich gesehen ein ungeregelter Lieferantenkredit. Der Verkäufer überlässt seinem Kunden zwar die Ware, erhält im Gegenzug aber keine Bezahlung und gewährt damit ein Darlehen. So entsteht eine Forderung gegenüber dem Schuldner. Um eine korrekte Buchhaltung zu gewährleisten und das Kreditrisiko zu dokumentieren, wird der Betrag in den Geschäftsbüchern vermerkt, woher auch die landläufige Bezeichnung «anschreiben lassen» stammt – wer aufgelaufende Schulden rasch tilgt, ist entsprechend «gut angeschrieben». Für Stammkunden pflegten Bauern oder Händler eigene Anschreibebücher zu führen, in denen alle noch unbezahlten Einkäufe mitsamt den geschuldeten Beträgen säuberlich aufgelistet wurden. Abgerechnet wurde in der Regel wöchentlich oder monatlich. Bis heute ist das Anschreibenlassen im Tante-Emma-Laden oder in der Stammkneipe Brauch, und die gängigste Form des Anschreibebuchs beim Kneipenwirt ist der handschriftliche Vermerk auf einem Bierdeckel.
Die Praxis des Anschreibens beruht auf Vertrauen in die Zahlungsbereitschaft des Schuldners. Zwar konnte der Kreditgeber auf Sicherheiten bestehen, einer Teilzahlung etwa, einer Bürgschaft oder gar einem Faustpfand. Doch ein Aufschlag, ein Kreditzins, war unüblich, denn das Anschreiben bot auch dem Gläubiger Vorteile, die wir heute als effektive Kundenbindungsmassnahme bezeichnen würden: Wer dem Händler verpflichtet ist, wird es tunlichst unterlassen, während der Kreditlaufzeit bei anderen einzukaufen.
Als niederschwellige Kreditaufnahme ist das Anschreibenlassen die häufigste Anwendung der im Familienrecht statuierten sogenannten Schlüsselgewalt. Diese besagt, dass Eheleute (oder eingetragene Lebenspartner) das Recht haben, Geschäfte zu tätigen, die zum Lebensunterhalt beitragen, ein jeder auch zulasten des anderen. Das bedeutet, dass der Wirt das Geld nicht nur vom Gast einfordern kann, der seine Zeche hat anschreiben lassen, sondern im Bedarfsfall auch von dessen Frau. Im Fall des Meisterschützen von Kappenberg wird das allerdings nicht nötig gewesen sein: Freiherr vom Stein nämlich war hoch angesehen, und als preussischer Wirtschafts- und Finanzminister wird er die Schuld so rasch und diskret wie möglich wieder beglichen haben.