Wie haben die Menschen ihr Vermögen bemessen, als es noch kein zählbares Geld gab? Die Wissenschaft kennt die Antwort: Sie haben gewogen, und das in einer bisher unbekannten Einheitlichkeit.
Tonscherben, Bronzeäxte, Goldschmuck: Der Fund, den drei Freunde mit ihrem Metalldetektor 2002 auf einem Feld im walisischen Wrexham machten, war spektakulär. Nicht nur aufgrund des hohen Alters und hervorragenden Zustandes – die 3300 Jahre alten Schmuckstücke, darunter ein aus Goldfäden geflochtener Fingerring und Goldperlen eines Gehänges, sahen aus, als wären sie gestern noch getragen worden –, sondern auch aufgrund ihres Gewichts. Unter den Preziosen befand sich nämlich ein kunstvoll gefertigter Ring aus einem Massivgoldprofil, das sorgsam zu einer Doppelspirale verdreht und einst um den Hals getragen worden war. Dieser Halsring wiegt exakt 367,09 Gramm und muss schon vor über drei Jahrtausenden ein Vermögen dargestellt haben.
Diesen Ring nahm Lorenz Rahmstorf, Direktor des Seminars für Ur- und Frühgeschichte der Universität Göttingen, 2018 unter die Lupe. Ähnliche Goldringe waren schon zuvor in England und Irland gefunden worden, und Rahmstorf begann, die Gewichte von 52 vergleichbaren Funden mittels statistischer Methoden zu vergleichen. Was er herausfand, war verblüffend: Alle Halsringe basieren auf einer Gewichtseinheit von 93 Gramm. Rahmstorf dehnte seine Untersuchung auf 100 weitere bronzezeitliche Goldartefakte aus, Schliessen und Fibeln, die von den britischen Inseln und aus Nordfrankreich stammen. Und wieder zeigte sich, dass das Mass aller Dinge eine rund 93 Gramm schwere Werteinheit gewesen sein muss.
Das ist mehr als bemerkenswert, denn es bedeutet: Bereits im späten zweiten und im frühen ersten Jahrtausend v. Chr. haben die Menschen über ein hochpräzises Messwesen verfügt, und ihre Handelsrouten reichten über ganz Europa hinweg bis nach Nordafrika und in den Mittleren Osten. Die von den Wissenschaftlern nachgewiesene Einheit von 93 Gramm, ziemlich genau drei heutige Feinunzen, ist auffallend ähnlich dem in altägyptischen Aufzeichnungen genannten «Deben» von 91 Gramm, einer Gewichtseinheit der Pharaonen zwischen 1500 und 1000 v. Chr.
Unterschiedliche Weltengegenden, einheitliche Gewichte: Die Forscher nehmen an, dass sich das nötige metrologische Wissen mit Händlern und Waren entlang der Handelsrouten verbreitete. Erst Gewichtseinheiten ermöglichten es, Wertrelationen zwischen verschiedenen Metallen – und vielleicht auch zwischen wichtigen Waren wie Wolle oder Getreide – präzise und ortsunabhängig abzubilden. Offenbar hätten hinter dem Austausch schon damals manifeste Wirtschaftsinteressen von Handelspartnern gestanden, erklärt Lorenz Rahmstorf: Man könne also durchaus von Handel im modernen Sinn des Wortes sprechen.
Als Messinstrumente müssen verlässliche Waagen und Feingewichte gedient haben, die so genau waren, dass eine Werteinheit in Ägypten exakt dieselbe war wie in Britannien. Dass die Hochkulturen des östlichen Mittelmeerraums und Westasiens (Griechenland, Ägypten, Mesopotamien) Präzisionswaagen kannten, ist nichts Neues – wohl aber, dass dieselben Wertbemessungssysteme auch im prähistorischen Europa bekannt und gebräuchlich waren. Forscher Rahmstorf:
Unsere Ergebnisse zeigen, dass wir die Komplexität des frühen Warenaustauschs und Handels während der Bronzezeit in Europa bislang unterschätzt haben.