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Der Schraubenschlüssel des Buchhalters

Soll und Haben: Finanz und Wirtschaft wären heute ohne Tabellenkalkulation undenkbar. Deren Geburtsstunde schlägt 1978 in einem verstaubten Hörsaal.

Wann immer wir uns einen Überblick über unseren Besitz verschaffen wollen – Was gehört mir? Was schulde ich wem? – dann erstellen wir eine Tabelle. In der Wissenschaft heisst sie matrix, lateinisch ‹Gebärmutter›, doch auf Deutsch ist die Darstellung in waagrechten Zeilen und senkrechten Spalten ganz einfach eine ‹Tabelle›. (Im Grunde ist zwar auch das Latein und heisst ‹Brettchen› oder ‹Gedächtnistäfelchen›.) Die Tabelle ist so etwas wie die kognitive Allzweckwaffe des modernen Menschen. Soll und Haben, Namen und Daten, Vor- und Nachteile – alles pflegen wir säuberlich in Zeilen und Spalten zu gliedern. In der Informatik die Datenbank, in der Wirtschaft die Bilanz, in der Bank der Kontoauszug – alles Tabellen.

Ob einfaches Kassenbüchlein oder ausgefeilte doppelte Buchhaltung: Wenn’s ans Rechnen geht, führt kein Weg an ­Tabellen vorbei. Das lernt im Frühling 1978 auch der 26-jährige Student Dan Bricklin. Sein Professor an der Harvard Business School in Cambridge, Massachusetts, entwirft ein Geschäfts­modell, das er mit Kreide in Zeilen und Spalten an die Wandtafel schreibt. Jedes Mal, wenn sich einer der Parameter ändert, nimmt der Professor den nassen Schwamm zur Hand, wischt Feld für Feld aus, um dann fein säuberlich die neuen Werte einzutragen. Bricklin, ausgebildeter Informatiker, langweilt sich zu Tode. Er träumt von einem Helmdisplay, wie es die Kampfpiloten in ihren Jets haben, das Zahlen anzeigen und sie im Nu addieren kann. Später, beim Radfahren an der Küste, wird ihm klar: Auswischen, Berechnen und Darstellen, das alles ist ein Fall für den Computer.

Zusammen mit seinem Kollegen Bob Frankston programmiert Bricklin in den kommenden Monaten eine neuartige Software für den damaligen ‹Apple II›. ‹Visicalc›, so nennen die beiden ihr Programm, stellt Text oder Zahlen in einer beliebig grossen Tabelle dar, und jede einzelne Zelle ist in der Lage, Berechnungen durchzuführen. ‹Visicalc› macht den Computer zu einer potenziell unendlichen Menge von Taschenrechnern, und das so, dass jedermann es auf Anhieb versteht. Mit dieser ersten Tabellenkalkulation der Geschichte wird der ‹Apple II› mit einem Schlag zum Universalwerkzeug für Finanz und Wirtschaft. Es ist das Programm, das IBM überhaupt erst auf den Gedanken bringt, nicht länger nur schrankgrosse Industrierechner, sondern künftig auch Personalcomputer herzustellen.

‹Visicalc›, diese Urmutter von Excel & Co., ist ein durchschlagender Erfolg und löst in den Büros dieser Welt eine kleinere Revolution aus. Ohne Computer und Kalkulationstabellen wären Unternehmensführung und Bankwesen heute undenkbar. Ironie der Geschichte: Auf eine Patentanmeldung für ihr bahnbrechendes Programm haben die beiden begnadeten Erfinder verzichtet. Die Kosten erschienen ihnen zu hoch, und sie rechneten sich keine Chancen aus, mit ihren Rechten an ‹Visicalc› dereinst auch nur einen Cent zu verdienen.